Sehnsucht nach einer kleinen Stadt

Sehnsucht nach einer kleinen Stadt

21.12.2023

… Jetzt müßte man in einer Kleinstadt sein
Mit einem alten Marktplatz in der Mitte,
Wo selbst das Echo nächtlich leiser Schritte
Weithin streut jeder hohle Pflasterstein,

Wo vor dem Rathaus rost’ge Brunnen stehen
In einem toten, längstvergessnen Stil,
Wo selbst aus Erz die Statuen mit Gefühl
Des abends Liebespaare wandeln sehen,

Wo alte Höfe unentdeckt noch träumen,
Als wären sie von einer andern Welt,
Nur ab und zu ein Dackel leise bellt,
Und blonde Kinder spielen unter Bäumen.

Da blühn Geranien, Tulpen und Narzissen
Vor Fenstern winzig wie im Puppenhaus.
Zum ziegelroten Giebeldach heraus
Hängt buntkariert ein bäurisch Federkissen.

Hier haben alle Menschen immer Zeit,
Als machte das Jahrhundert eine Pause.
Hier sitzt man noch auf Bänken vor dem Hause.
– Und etwas abseits gibt’s noch Einsamkeit.

Nichts stört die klare Stille in der Nacht.
Wie unbegreiflich nah sind hier die Sterne …
Gespenstergleich verlischt die Gaslaterne,
Wenn familiär der Mond herunterlacht.

Da scheint uns – fern von allem – vieles glatt,
Was man zuvor mit anderm Maß gemessen.
Man könnte wohl so mancherlei vergessen
In einer solchen braven kleinen Stadt …

In diesen unruhigen, zerfurchten Zeiten sei allen

Mascha Kalékos Gedichtband „Das lyrische Stenogrammheft“ (dtv, München 2016)

empfohlen.

Wir wünschen ein friedliches und hoffnungsvolles neues Jahr!